Die Anfänge im ersten Jahrtausend - so könnte es sich zugetragen haben...

Krippenausstellung in der Stephanuskapelle

Zwei Paar Füße, nur mit ein wenig Leder umschnürt, lieblich aber von ihrer langen Wanderung durch den Wald gezeichnet, sie bleiben stehen als ihre Besitzer das kleine Heiligtum erblicken. Wenn das Evangelium nicht ihre Herzen ergriffen hätte, hätten sie auf der Felsennase dem gefiederten Wotan ein Bieropfer dargebracht. Wäre auf ihrer Reise etwas schief gegangen, hätten sie Freija einen Tierschädel opfern müssen, sonst wären sie angeführt vom Seher, der im Wald haust, wieder ins Unglück zurückgetrieben worden.
 
Nun aber binden Sie frech und frei aus zwei Ästen und Lederriemen ein Kreuz und stecken es in das Bieropferloch des Wotansteines. In ihrer unbekümmerten Freude über solchen Schelmenstreich beginnen sie Gott zu preisen, den Schöpfer des Himmels und der Erde, und Jesus Christus, seinen Sohn, der sie von ihren Bindungen und Ängsten befreit hat. Heute fühlen sie sich selbst dazu berufen, das Evangelium von der Liebe Gottes aus dem Rheintal bis in die entlegenen Winkel jenseits von Murr und Enz zu tragen.
 
Am frühen Morgen waren zwei andere Gestalten aufgebrochen, um weiter hinauf bis an die Quellen der Teinach zu ziehen. Dort erhoffen sie sich reiche Beute. Sie sind Felljäger, ein Vater und sein ältester Sohn. Der Gestank eines erst gestern abgezogenen Wildschweinfelles umgibt den Jüngeren. Der vom Älteren aufgeschulterte und nicht besser riechende Kopf soll sie vor dem Schlimmsten bewahren.

 

Dennoch treffen sie auf große Widerstände: Nebelbänke, in denen Dämonen hausen könnten. Mühsam umwandern sie diese. Damit meiden sie auch die verwunschen Espen- und Birkenhaine, in denen die Toten ihr Unwesen treiben. Auf offener Fläche werden sie stattdessen von Schmeißfliegen und Wespen verfolgt. Auf den Umwegen durch den Eichen- und Buchenwald beschleicht sie die Sorge, nicht rechtzeitig vor Einbruch der Nacht ihren Unterschlupf oberhalb des Quellgrundes zu erreichen. Dann wären sie im hellen Mondlicht ein leichtes Fressen für die von ihnen so gefürchteten Werwölfe.
 
Als sich endlich die Hänge der Teinach allmählich ebnen, und ihr Lager noch vor Sonnenuntergang erreichbar scheint, durchqueren sie das Tal um unterhalb des Wotanfelsens Freija den Schädel darzubringen. Da erfassen fremde Töne ihre bis gerade eben noch so gehetzten Herzen. Der Gesang zweier Männer lenkt ihre Blicke zu dem Kreuz auf der heiligen Stätte. Sie wissen nicht, was es zu bedeuten hat. Aber alles, was ihre Seele erfüllt, alle Ängste und Nöte, ihre finsteren Bindungen und ihre Abhängigkeit vom Seher, der kultische Missbrauch ihrer Körper und Seelen steigt in ihnen empor. Zorn nimmt sie in Besitz.
 
Die Entheiligung diese Ortes durch die Fremden greift ihr Inneres an. Auch das ständige Leben mit der Angst gibt einem eine gewisse Vertrautheit. Was aber die Beiden auf dem Heiligtum treiben, nimmt die Ordnungen der finsteren Macht nicht ernst. Der Vater nimmt den Tierschädel vom Rücken und bedroht, während er die Anhöhe hinaufschnaubt, die seltsamen Sänger. Ihrer Statur und Kleidung nach sind sie auch Alemannen. Ihre Augen aber scheinen nicht von der Finsternis gebrochen zu sein.
 
Vom unbeholfenen Fuchteln ihres Landesgenossen mit dem schweren Eberkopf wirken die unbewaffneten Sänger nicht besonders tief beeindruckt. Weder verstummen sie, noch weichen sie zurück. Auch nicht, als der Sohn sein Messer zückt.

 

„Friede!“ ruft der eine laut aus! Und der andere nähert sich unbewaffnet und mit ausgebreiteten Armen den beiden Jägern. Mit einem herzlichen „Grüß Gott!“ und einem entwaffnenden Lächeln nimmt er erst den verdutzten Vater mit dem Wildschweinschädel, dann den nach seinem frischen Fell stinkenden Sohn in den Arm. Dabei weiß dieser noch immer nicht, was er mit seinem Messer tun soll.
 
Zunächst hören sie der wutentbrannten Rede des Vaters über ihr gefährliches, schändliches und todbringendes Verhalten zu. Dann erzählen die fröhlichen Wanderer, dass Sie nicht die Herren des Todes, sondern den Lebendigen verehren. Während der Abend über sie hereinbricht, fassen die Jäger notgedrungen Vertrauen zu den merkwürdigen Freudenboten. Die Nacht wollen sie lieber auf der Seite der Lebendigen verbringen und rücken alle gemeinsam im Unterschlupf der Fellner zusammen.
 
Jahr für Jahr begegnen sich die beiden ungleichen Paare während des zweiten Sommermondes an den Quellgründen der Teinach. Im Jahr darauf noch zufällig. Dann als Freunde in der Hoffnung sich im folgenden Jahr wiederzusehen.  Nachts unterhalten sie sich lang und eifrig über ihre Ängste und über den neuen Glauben, der mehr Macht über die Dämonen und Götter zu haben scheint als der inbrünstig inszenierte Zauber der Seher.
 
Im zwölften Sonnenjahr nach ihrer ersten Begegnung bittet der Sohn seinen Vater, sich von Wotan und den Mächten der Finsternis lossagen zu dürfen. Sie verabreden sich zum ersten Herbstmond. Vater und Sohn bringen ihre Familie mit: ihre Frauen, Geschwister, Kinder, Enkel, Geschwisterkinder und deren Kinder. Die Christen haben in der Zwischenzeit mit Blocksandsteinen und Ästen das Wasser der Teinach ein wenig aufgestaut.
Noch vor wenigen Jahren wäre kein Alemanne freiwillig ins Wasser gestiegen. Die Angst vor Wasserfrauen und anderen Unwesen hätte sie daran gehindert. Nun lässt sich der Vater als Erstes auf den Namen Gottes des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes taufen, dann sein ältester Sohn, schließlich die ganze Familie.
 
Danach erklären sie unter Gesängen und Gebeten, dass der Auferstandene die Macht des alten Heiligtums gebrochen hat, die sich aus der Angst vor Tod und Dämonen speiste. Stattdessen feiern sie dort ihr neues, befreites Leben unter dem Kreuz dessen, der den Tod überwunden hat. Sie teilen Brot und Wein und lauschen einer Predigt über Stephanus, der angesichts seines Todes den Himmel offen stehen sieht.
 
An diesem Ort wird heute noch immer gebetet: in der Stephanuskapelle unter dem erst viel später errichteten Neuweiler Kirchturm.
 
So oder so ähnlich könnten die ersten Menschen auf dem Gebiet des späteren Neuweiler zum Glauben gekommen sein.

 

Klaus-Peter Lüdke